Im Jahr 1994 wollte ich meine erste Auslandsreise ohne meine
Eltern unternehmen. Das Ziel stand eigentlich schon lange fest: Paris. Diese
Stadt erschien mir damals als die schönste und spannendste Stadt Europas. Aber
es war nicht einfach Paris. Ich wollte das Centre Pompidou besuchen. Darauf
aufmerksam geworden wahrscheinlich durch die Berichterstattung rund um den
Wettbewerb zur Bebauung des Potsdamer-Platz-Areals, erschien mir das Centre
Pompidou damals als der Inbegriff von Kultur.
(Foto eines in der Galerie Aedes am Savignyplatz in den 90er Jahren ausgestellten nicht realisierten Modells für das Centre Pompidou)
Im Januar 1994 war es dann endlich soweit. Ursprünglich als
Reise zusammen mit einem Freund, den ich bei der Arbeit im Museum kennengelernt
hatte geplant, trat ich die Reise schließlich alleine an, als der Freund kurzfristig
absagte. Und nach einer anstrengenden Fahrt mit dem Nachtzug erreichte ich
vormittags, ohne bis dahin zu wissen, wo ich übernachten sollte, die Stadt. Nachdem in einer Jugendherberge unweit des Rathauses
ein Bett organisiert war, begannen meine (bis heute einzigen) drei Tage in Paris.
Auf dem Plan standen ein Spaziergang mit abendlichem Besuch des Centre Pompidou
und darin des Musée National d‘Art Moderne, am zweiten Tag ein Besuch des Picasso-Museums und am dritten des Arc de Triomphe, der Champs-Élysées
und Sacré-Coeur.
Unvergesslich bis heute ist mir der Besuch des Musée
National d’Art Moderne in den Abendstunden, in denen dort länger geöffnet war als
in den Berliner Museen, die entspannte Atmosphäre, die sehr schick gekleideten
Aufsichtskräfte, eine deutsche Schulklasse, die, Erklärungen erhaltend, sich
vor einem riesigen Bild von Kandinsky niedergelassen hatte.
Der zweite Tag brachte dann mit dem Picasso-Museum mein bis
heute vielleicht intensivstes Museumserlebnis, bei dem ich den ganzen Tag in
der Ausstellung verbrachte. Nach dem Besuch hatte ich mir eingebildet, mich
anders zu fühlen oder mich verändert zu haben.
Eigentlich waren damit die wesentlichen Punkte der Reisewunschliste
erfüllt, den dritten Tag hatte ich für Sightseeing offen gelassen. Aber
schließlich sollte dann ein ungeplantes Erlebnis dieses dritten Tages für mich zum
eigentlichen Erlebnis von Paris werden. Nach einem morgendlichen Besuch am Arc
de Triomphe und einem kurzen Spaziergang über die Champs-Élysées bei eisigen
Temperaturen wollte ich mit der Métro in Richtung Montmartre fahren. Für einen
Sonntagvormittag war der Zug dann jedoch erstaunlich voll. An einem Punkt
stiegen die meisten Leute aus. Um zu sehen, was der Grund dafür ist,
stieg ich mit aus – und befand mich plötzlich auf der Straße in einer
Riesendemonstration, die sich offenbar gerade in Gang setzte. Es waren dabei
sehr viele junge Menschen. Aus Interesse reihte ich mich in die Demonstration
ein, auch weil ich dachte, dass dies ebenfalls eine interessante Art des
Sightseeings sein könnte. Was dann begann, war aber mit Demonstrationen, die
ich in Berlin kennengelernt hatte, nicht zu vergleichen. Dies war keine
Demonstration sondern eine 'Manifestation'. Schon nach wenigen Minuten kam ein
älterer Herr auf mich zu, fragte mich, ob ich mitdemonstrieren würde und holte
mir eine Anstecknadel. Die Demonstranten setzten sich in Blöcken in Bewegung. Was
mir neu war, waren Tänze und Zwischenspurts, die plötzlich eingelegt wurden,
die ich erst nicht mitmachen wollte, aber dann dazu gezwungen war, da einen der
folgende Block ansonsten überrannt hätte. Unvergesslich auch Schüler, die auf
der gesamten Breite des Straßenzuges begannen, die Nationalhymne zu singen. Kein
Vergleich mit der Passivität der Teilnehmenden, die ich in Berlin erlebt hatte.
Es war eine Demonstration für die öffentlichen Schulen und für die Demokratie
mit nach Angaben von Libération über 600.000 Teilnehmern. In Berlin führen
solche Demonstrationen heute über Straßen mit Namen wie Kurfürstendamm, Unter
den Linden, Potsdamer Platz. Hier bewegte sich die Menge der Menschen über die
Place de la République, den Boulevard Voltaire zur Place de la Nation.
Vielleicht gab es keine bessere Möglichkeit, als Paris und Frankreich auf einer
solchen „Manifestation“ kennenzulernen.
(Libération vom 17.01.1994)
(ein damals am Rande verteiltes Flugblatt)
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